Christliches Verständnis für „junge Araber“ in der Gegenwart

Hach, wie war doch alles übersichtlich, damals vor nur wenigen Wochen, als Tunesien noch von Ben Ali, Ägypten noch von Mubarak und die meisten anderen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens von panarabischen, post-nasseristischen Diktaturen regiert wurde. Die Benzinpreise waren insgesamt erträglich, die Tourismusbranche boomte, die Zeitschrift Geo konnte in einer Special-Ausgabe zu Jordanien und Syrien noch einem gutgelaunten, hippen Kaffee-Latte-Orientalismus frönen. Wir schauten nicht so genau hin. Der Mangel an Demokratie wurde durchaus als solcher erkannt, doch sogleich als Negativfolie benutzt, damit die einzige Demokratie des Nahen Ostens, Israel, weiterhin Ansehen genießen konnte. Besatzung, Landraub, Siedlungsbau, Abriegelung, willkürliche Verhaftungen selbst von Minderjährigen, die fortgeführte Zerschlagung zivilgesellschaftlicher Strukturen auf palästinensischer Seite – alles das wurde als Kollateralschaden wahrgenommen. Und Iran als das neue Reich des Bösen dämonisiert. Die Free-Iran-Websites florierten. Auf der anderen Seite des ideologischen Grabenes verfing sich so mancher vermeintliche Palästinafreund oder Anti-Imp im Netz der eigenen Befindlichkeiten und half bereitwillig mit, den Iran als legitime Gegenmacht zu Neoliberalismus, Kapitalismus und Zionismus aufzubauen. Hand in Hand mit (anti)deutschen Israel-Groupies.

Es sind diese beiden Aspekte – auf der einen Seite eine dermaßen stark verinnerlichte Israelsolidarität, auf der anderen Seite eine genauso befindlichkeitsgesteuerte Sympathie für den größten Unsympathen, bloß weil es ihm gelungen ist, von hiesigen Medien als der Teufel in Person in die Schlagzeilen gehievt zu werden –  es sind diese beiden Zusammenhänge, die es vielen Medienvertretern und Politikern so schwer machen, sich adäquat zu den derzeitig vollziehenden Ereignissen in Arabien zu positionieren. Es bleibt abzuwarten, wie sich besonders in Ägypten die Dinge entwickeln werden. Aus Kairo gingen seit jeher besondere Impulse in Sachen Panarabismus aus, so dass der Iran durchaus befürchten darf, seinen Nimbus als vermeintliche Sperrspitze des Antiimperialismus einzubüßen. Was wird passieren – abgesehen von einem massiven Relevanzverlust für Jürgen Elsässer?

Ich nehme eine Unfähigkeit wahr, die für Demokratie kämpfenden Menschen in Ägypten, Tunesien, Libyen, im Jemen, in Jordanien und anderswo überhaupt als menschliche Wesen zu akzeptieren.

Symptomatisch etwa ein Kommentar zu den „Unruhen in Lybien“ , den ich in der von mir ansonsten hochgeschätzten Zeitschrift Christ in der Gegenwart entdeckt habe. Gezeichnet wird ein Bild von  demonstrierenden „jungen Leuten“, denen es offenbar nicht schlecht genug geht:

Sie wollen Freiheit und Bildung, heraustreten aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Sie haben Mut, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Sie wollen zudem mit ihrer Bildung etwas anfangen, einen vernünftigen Beruf ausüben, sich und ihren Familien eine sinnvolle Zukunft bieten. In den Seelen der jungen Araber ist die Sehnsucht nach Modernität, Wohlfahrt, Innovation, Fortschritt geweckt.

Nicht nur, dass in diesem Artikel zahlreiche Vokabeln bemüht werden, mit denen nicht nur hierzulande der mediale Mainstream seine völlige Fühl- und Ahnungslosigkeit unter Beweis gestellt hat – von „Generation Facebook“ bis „Unruhen“! Der Freiheitsdrang der „jungen Araber“ wird beschrieben, als habe die Pubertät für sie spät, aber dann doch heftigst begonnen:

Die Rebellionen von Nordafrika über die arabische Halbinsel bis in die – eigentlich reichen – Golfstaaten sind auch der Ausbruch eines Generationenkonflikts. Genauer: der Ausbruch aus einer traditionell verankerten Ordnung, gemäß der die Autorität der Ahnen alles bestimmt und respektiert werden muss.

Ob diese Leute, auf brenneden Barrikaden sitzend, Der Fänger im Roggen oder Die Verwirrungen des Zöglings Törleß gelesen haben? Das wäre doch romantisch! Der Versuch des Autoren, die demonstrierenden Araber ernstzunehmen, ist erkennbar, kann dabei aber nicht wirklich als geglückt angesehen werden. Verglichen mit Zielen wie dem Ende von Polizeistaat und Folter und dem Herauskommen aus Armut und Hoffnungslosigkeit, machen sich die im CiG beschriebenen Sehnsüchte recht schmalspurig aus. Möglichweise habe ich auch einfach versäumt, die zitierten Passagen in ihrer – von mir jetzt einfach mal so unterstellten – Mehrdimensionalität zu lesen. Das Lesen zwischen den Zeilen fällt mir oft schwer. Aber was bitte ist so schwierig daran, festzustellen, dass es sich bei den Aufständen in Ägypten, Tunesien und anderswo um die Auflehnung von Menschen mit verschiedenen ideologischen Hintergründen, Glaubensüberzeugungen und sozialen Herkünften handelt, die es satt sind, unter der Knute von Regimen existieren zu müssen?

„Wir sind gebor’n, um frei zu sein“, ob in „Augsburg, München, Frankfurt, Saarbrücken“ oder in Kairo, Tunis, in Tel Aviv, Jerusalem und Gaza. Ob auf Facebook, Twitter – oder  inden Slums an der Peripherie der Metropolen.

2 Gedanken zu “Christliches Verständnis für „junge Araber“ in der Gegenwart

  1. Gut beobachtet! Ob es allerdings gleich die Freiheit werden wird, von der Rio Reiser und die Scherben einst sangen, darf bezweifelt werden. Zu unterschiedlich noch sind die Motive derjenigen, die jetzt unter Einsatz ihres Lebens aufbegehren.
    Dennoch muß ihnen jetzt unsere ganze Solidarität und Sympathie gelten und wir müssen unseren Pragmatismus („Stabilität“, „Öl“) mal beiseiteschieben.
    Auch Israel täte gut daran, wie Uri Avnery unlängst schrieb http://www.binsenbrenner.de/wordpress/2011/02/21/der-geist-ist-aus-der-flasche/
    und auch Peter Münch hat gestern in der SZ ein Umdenken Israels angemahnt: http://www.sueddeutsche.de/politik/proteste-im-nahen-osten-israel-und-die-angst-vor-den-nachbarn-1.1065217
    Jetzt wäre die Gelegenheit, die entstehenden Zivilgesellschaften im arabischen Raum solidarisch zu unterstützen und wer weiß – vielleicht fallen darüber auch noch Hamas und Hisbollah?

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    1. Danke für die Blumen! Sollte es u.U. zu einer Verschiebung der Kräfteverteilung in der „islamischen Welt“ kommen und nicht mehr Iran, sondern Ägypten unter einer demokratischen Regierung (wieder) eine Schlüsselrolle zukommen, könnte es da nicht auch auch riskant werden für Hizbollah und Hamas…? Erhellendes und Anregendes bietet in diesem Punkt Nir Rosen.

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